160 Jahre

Handwerkliche Braukunst seit 160 Jahren

Für 68.000 Taler erwarb Joseph Theodor Graf zu Stolberg-Stolberg im Jahr 1840 das Rittergut Westheim aus dem Kahlenbergschen Besitz. Weitere 16.000 Taler waren erforderlich, um den damaligen Pächter des Gutes abzufinden. Die dafür notwendigen Verhandlungen weisen erstmals auf eine, bis ins Jahr 1826 belegbare, „alte Brennerei“ hin, die auf Gut Westheim betrieben wurde.
Unmittelbar nach der vollständigen Übernahme des Gutes veranlasste Joseph Theodor zu Stolberg-Stolberg eine umfassende Modernisierung der Landwirtschaft. Auch der Brennereibetrieb wurde völlig neu organisiert und technisch auf den neuesten Stand gebracht.

Kartoffelschnaps und religiöse Raserei

Täglich wurden damals rund 750 Scheffel Kartoffeln zu 1200 Quart Spiritus verarbeitet, was etwa 1374 Litern Brand entspricht. Kaum kam der Brennbetrieb richtig ins Rollen, trafen Missernten den Kartoffelanbau. Zwar erfreute sich die Westheimer Landwirtschaft selbst auf dem Höhepunkt der letzten großen Hunger- und Ernährungskrise von 1846/47 noch bester Ernteerträge, jedoch wurde die Branntweinherstellung aus Nahrungsmitteln generell verboten. Einer Legende zufolge soll das Ende der „alten Brennerei“ jedoch keine Folge der äußeren wirtschaftlichen Umstände gewesen sein. Stattdessen habe der damals für den Brennbetrieb zuständige Rentmeister nach der Predigt eines seinerzeit überaus berühmten Missionars die Brenneinrichtungen im Zustand religiöser Raserei kurz und klein geschlagen.

Obwohl die Zerstörung der Brennerei das Gut Westheim schwer getroffen hatte, wurde Joseph Theodor zu Stolberg-Stolberg von seinen politischen und kirchenpolitischen Ämtern zu sehr in Anspruch genommen, um selbst in die Gutsverwaltung eingreifen zu können. Nach dem Tod des Grafen 1859 verpachtete seine Witwe Caroline, geb. Gräfin von Robiano, das Gut an „Vater und Sohn Döring aus Greifenstein bei Heiligenstadt“, wie es dem Pachtvertrag aus dem Jahr 1860 zu entnehmen ist.

Bereits zu Beginn der insgesamt 15 Jahre währenden Pachtphase startete auch die brauwirtschaftliche Entwicklung. Bis dahin wurde auf fast allen landwirtschaftlichen Gütern schon Bier für den Eigenbedarf der Besitzer und des Gesindes produziert. Auch in Westfalen hatte sich die Sitte des Hausbrauens noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in einzigartiger Weise erhalten.

Buchführung auf der Brauhaustür

Ähnlich unorganisiert wie die Produktion gestaltete sich auch der Verkauf der frühen Westheimer Biere. Dabei soll es nicht immer sehr kundenfreundlich zugegangen sein. Kundschaft, die ungelegen kam, wurde von der Frau des Braumeisters in „derber und ausfälliger Art“ barsch abgewiesen. Andere Kunden mussten nicht nur „halbe Tage warten“, sondern eigenhändig leere Fässer auf dem Hof zusammensuchen und vor der Befüllung selbst reinigen. Mangels einer systematischen Buchführung konnten Aufwand und Ertrag nur überschlägig kalkuliert werden. Zuweilen wurde der tägliche Bierverkauf von einem Knecht einfach mit Kreide auf der Tür des Brauhauses notiert. Dennoch war die Westheimer Gutsbrauerei eine der ersten Braustätten in ihrer Region, die nicht nur ab und an für den Eigenbedarf, sondern auch schon für einen lokal begrenzten Markt produzierte.

Rücknahme aus der Pacht

Das Geschäft ihres Lebens machten Arens und Mergell, als zu Beginn der 1870er Jahre die Eisenbahn durch das Diemeltal gebaut wurde. Die Scharen der Gleisarbeiter kauften sämtliches Bier was nur irgendwie gebraut werden konnte. Doch schon bald zeigte sich die Kehrseite dieses kurzfristigen Erfolgs. Die vernachlässigte regionale Stammkundschaft fühlte sich vergrault und mit der Bahn kam zudem fremde Konkurrenz in die Region. Die Folge war ein herabgewirtschaftetes Gut Westheim, das Gräfin Caroline zu Stolberg-Stolberg im Jahr 1875 aus der Pacht zurücknahm, um Gut und Brauerei unter eigene Verwaltung zu stellen.

Noch während Friedrich Waldeck, Generalbevollmächtigter der Gräfin, die Übernahmeverhandlungen führte, kam es zur Katastrophe: ein Brand zerstörte die Vorräte in den Scheunen, sämtliche Wohnräume des Braupersonals, die Mälzerei sowie Dachböden und Lagerräume. Unter größten Schwierigkeiten gelang es Caroline zu Stolberg-Stolberg jedoch, den Braubetrieb nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern auch noch von Grund auf zu sanieren. Zum Zeitpunkt der Übernahme konnte man lediglich das alte Lokomobil als Bestandteil des brauereieigenen Maschinenparks verzeichnen. Insofern war der Brand auch ein Innovationsimpuls für die Brauerei. An der Seite des langjährigen Gutsverwalters Friedrich Waldeck trieb der damals erst zweiundzwanzigjährige Hermann Graf zu Stolberg-Stolberg die Entwicklung der Brauerei voran.

Das „Westheimer Programm“ des Friedrich Waldeck

Friedrich Waldeck weilte 1875 am Landwirtschaftlichen Institut in Berlin und lernte bei dieser Gelegenheit die Modernisierung des Brauereiwesens in Berliner Großunternehmen kennen. Sein daraufhin entwickeltes „Westheimer Programm“ legte den Grundstein für einen leistungsfähigen industriellen Braubetrieb mit einem angestrebten jährlichen Ausstoß von 10 000 bis 20 000 Hektolitern. Bedenkt man dabei, dass die durchschnittliche Jahresproduktion einer Brauerei im Jahr 1873 noch bei rund 1500 Hektolitern lag, wird die Kühnheit der Waldeck'schen Pläne erst deutlich.

120 000 Mark wurden von 1876 bis 1877 in den Aufbau der Brauerei investiert, wobei die Brandentschädigung nur einen geringen Anteil hatte. Die Neueinrichtung der Brauerei leitete Braumeister Brenken. Doch erst sein Nachfolger begründete den ausgezeichneten Ruf der Westheimer Brauerei mit einem besonders charakteristischen Bier. Der junge Braumeister Soldau war ebenso ein Glücksgriff wie der ebenso junge Buchhalter M. Schneider, der nach seiner Lehrzeit in Hamburg nun in Westheim die „doppelte Buchführung“ einführte. 1878 begann Friedrich Waldeck schließlich damit, die dritte Phase seines „Westheimer Programms“ mit dem Aufbau eines systematischen Vertriebsnetzes und der Erschließung eines überregionalen Absatzgebietes umzusetzen.

Die wilden Jahre der Gründerzeit

Als Hermann Graf Stolberg-Stolberg nach Abschluss seines Jurastudiums 1879 die Leitung der Brauerei übernahm, verband sich dessen jugendlich unternehmerischer Tatendrang mit Waldecks „Westheimer Programm“. In einem Brief vom 27.11.1881 notierte er: „Trotz der Acquisitionen und der Güte des Bieres geht es so schlapp wie kaum je. Das hat seinen Grund ... darin, daß wir keine großen Lokale haben, die von solchen Kalamitäten unabhängig wären, wie das in den großen Städten der Fall ist.“ Dank der Nähe zur Bahnlinie und der seit 1870 eingeführten gekühlten „Bierwaggons“ gelang Stolberg und Waldeck eine Expansion des Vertriebsgebietes. In rascher Folge wurden Exportlokale in Bonn, Düsseldorf, Aachen, Nymwegen, Arnheim und schließlich sogar in Berlin eingerichtet und an ortsansässige Wirte verpachtet. Das rasche Wachstum hatte jedoch seinen Preis, der nicht zuletzt aus den hohen Frachtkosten resultierte.

Auf die Dynamik des ersten Jahrzehnts der Brauereigeschichte folgte daher eine Phase der Kontinuität mit starker Konzentration auf den lokalen Markt und permanenter Modernisierung der Brauerei, die ab 1886 losgelöst von der Landwirtschaft als eigenständiger Betrieb geführt wurde.

Biertransport

Die Größe des Vertriebsgebietes einer Brauerei orientierte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert am maximalen täglichen Leistungsvermögen eines Pferdefuhrwerks. Als Faustregel galt für die Zeit um 1900, dass ein Pferdegespann in Großstädten auf guten Straßen täglich 5000 Hektoliter Bier bewältigen konnte, während auf dem Land meist nicht einmal 2000 hl erreicht wurden. Dennoch erreichte die Brauerei Westheim in den Jahren 1895 bis 1905 mit einer jährlichen Ausstoßmenge von rund 9000 hl eine für Landbrauereien überaus beachtliche Größenordnung.

Ab 1906 machte sich die Abschwächung des Biermarktes auch am Stolberg‘schen Brauausstoß bemerkbar, doch konnte ein Produktionsvolumen gehalten werden, das ein Überleben der Brauerei trotz des sich verschärfenden Wettbewerbs innerhalb der Brauwirtschaft sicherte.

Streit ums Flaschenbier

Braumeister Bartels setzte in dieser Zeit auf eine ständige Modernisierung. Eine entscheidende Neuerung war dabei der Einstieg in das wenige Jahre zuvor, dank der Pasteurisierung, aufblühende Flaschenbiergeschäft. Damit eröffnete sich die Brauerei Westheim neue Marktchancen und gewann zusätzliche Abnehmer in den zuvor bereits fest umrissenen Absatzregionen.
Doch auch Wirte wollten von den neuen Möglichkeiten profitieren und begannen das Bier selbst auf Flaschen aufzuziehen. Es kam allerorten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gastwirtevereinigungen und Brauereien, die erst mit der Übertragung des beim Fassbier bereits üblichen Eichzwangs auf das Flaschenbier endeten. Auch immer strengere Hygienevorschriften für die Flaschenbierabfüllung machten die Selbstabfüllung für Wirte immer unwirtschaftlicher. Während sich vor dem Ersten Weltkrieg der Flaschenbierumsatz ingesamt bei etwa 25 Prozent bewegte, lag dieser bei der Brauerei Westheim deutlich über dem Durchschnitt und kletterte zeitweise auf 45 Prozent.

Kühlung und Elektrizität

Das größte Problem aller Brauereiunternehmen war jedoch eine saisonbedingt stark schwankende Nachfrage. So betrug die Braumenge der Westheimer Brauerei in den Sommermonaten das doppelte dessen, was im Winterhalbjahr produziert wurde. Da der temperaturempfindliche untergärige Brauprozess sehr stark von natürlichen klimatischen Bedingungen abhing, waren konstante Auslastung und Qualität stets gefährdet. Schon Pächter Arens hatte seinerzeit neue „Felsenkeller“ in den Hang hinter der Brauerei treiben lassen. Dennoch mangelte es weiterhin an sicheren Lagerräumen. Das untergärige Bier musste während des Brauvorgangs wie auch bei der Lagerung gleichmäßig gekühlt werden, was in der Brauwirtschaft zu einer massenhaften Verwendung von Natureis führte. Auch die Brauerei Westheim legte von 1882 bis 1885 neue Keller mit Natureiskühlung an. Erst der Einsatz künstlicher Eisund Kältetechnik war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur modernen Brauindustrie. Mit einer für die damalige Zeit gewaltigen Investition in die neue Kühltechnik rüstete sich die Brauerei Westheim um die Jahrtausendwende für die Zukunft. Bei dieser Neuerung stellten die Kosten für die Kältemaschinen allerdings den kleinsten Posten unter den Neuinvestitionen dar, denn die neue Kühltechnik machte umfangreiche bauliche Veränderungen notwendig und forderte zudem den Anschluss an den neuen Energieträger Elektrizität. Darüber hinaus mussten schließlich auch noch der gesamte Produktionsablauf an die neuen Technologien angepasst werden. Am Ende jedoch war die Brauerei Westheim eines der modernsten industriellen Brauunternehmen seiner Zeit.

Kriegszeiten

Die beiden Weltkriege bildeten für die gesamte Brauwirtschaft jeweils einen tiefen Einschnitt. Rohstoffmangel und staatliche Braubeschränkungen brachten die gesamte Branche schon während des Ersten Weltkriegs fast völlig zum Erliegen. Das daraus resultierende Brauereisterben fand vor allem im norddeutschen Raum statt, während bayrische Kleinbetriebe davon eher weniger betroffen waren.

Der Schrumpfungsprozess in der Braubranche hält bis heute an. Gab es vor 1914 noch mehr als 10000 Brauereibetriebe, hatte sich deren Zahl schon 1980 auf nur noch 1500 reduziert, wovon allein ein Drittel aller Brauereien in Bayern zu finden war.

Erfolgsfaktor Mittelstand

Überleben konnte nur, wer sich der technischen Entwicklung und dem Trend zur Betriebsvergrößerung angepasste. Beides gelang der Brauerei Westheim: seit den 1890er Jahren hatte sie Anschluss gehalten an den jeweils fortschrittlichsten Standards der Zeit und eine eigenständige Vertriebsstrategie entwickelt. Mitarbeiter wie der langjährige Braumeister Bartels genossen einen überregionalen Ruf und waren gefragte Teilnehmer von Tagungen der Brauereiverbände.

Die mittelständische Struktur der deutschen Brauwirtschaft wird von durchschnittlichen jährlichen Ausstoßmengen gekennzeichnet. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert hat sich heute der Begriff der „mittelständischen Brauerei“ nach oben verschoben. Aber noch immer gilt die Gräflich zu Stolberg‘sche Brauerei Westheim als Prototyp der eines mittelständischen Unternehmens der deutschen Brauwirtschaft.

Wie bei fast allen unternehmerisch tätigen westfälischen Adeligen war auch für Hermann Graf zu Stolberg-Stolberg der eigene Grundbesitz Ausgangspunkt seiner unternehmerischen Aktivitäten. Nicht schnelles Gewinnstreben, sondern ein auf langfristige Kontinuität ausgerichtetes Handeln stand dabei im Vordergrund. Das unternehmerische Verhalten von Hermann Stolberg war eine Ausnahme, die sich aus einer ökonomischen Zwangslage und den Lehren aus Rückschlägen langsam entwickelte. Was den frühen Unternehmenslenker auszeichnete war vor allem seine Bereitschaft zum unternehmerischen Risiko, sein Einlassen auf „bürgerliches“ Konkurrenzdenken und seine Aufgeschlossenheit für technische Innovationen. Während adelige und fürstliche Braubetriebe ihre Entstehung zumeist mit dem Besitz verbundenen Privilegien verdankten, war der Aufbau der Gräflich zu Stolberg‘schen Brauerei Westheim in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Werk einer außergewöhnlichen Unternehmerinitiative. Nach wie vor befindet sich die Brauerei Westheim im Besitz der Gründerfamilie. Mit den Freiherren Josef und Moritz von Twickel stehen direkte Nachfahren des Firmengründers in vierter und fünfter Generation an der Spitze des Unternehmens. Bis heute erweist sich die Konzentration auf den regionalen Markt als richtige Entscheidung.

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GRÄFLICH ZU STOLBERG'SCHE
BRAUEREI WESTHEIM GmbH

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